PIA: DIE MACHT DER GEDANKEN
Geschrieben von Pia
Triggerwarnung: In diesem Beitrag geht es um Erfahrungen rundum das Thema Essstörung. Sollte diese Themen negative Reaktionen bei dir auslösen, bitte sei achtsam und lies diesen Artikel nur im Beisein einer Person deines Vertrauens.
„Wie kannst du eigentlich so klein und süß sein und trotzdem so viel essen?“
Solche oder so ähnliche Fragen habe ich im Laufe meiner Kindheit und Jugend häufig zu hören bekommen. Für Außenstehende wirkt dies vermutlich wie ein nettes Kompliment. Für mich hingegen lösten Fragen oder Aussagen wie diese, erhebliche Selbstzweifel aus. Die Kumulation dieser Äußerungen und der ständige Rechtfertigungsdruck sorgten dafür, dass ich mich selbst und meinen Körper bereits während der Grundschulzeit grundsätzlich infrage stellte.
Sport war und ist schon immer eine wichtige Konstante in meinem Leben. Insbesondere als Kind habe ich daraus den größten Teil meines Selbstvertrauens, welches noch nie besonders stark war, ziehen können. Jedoch zeigt sich hier besonders eindrücklich, welche Macht Gedanken haben. Vor allem die der destruktiven Sorte.
In meiner frühen Pubertät kam ich an einen Punkt, an dem ich mich unerträglich unwohl in meinem Körper fühlte und mir schwor, nicht mehr die kleine, süße und gefräßige Pia zu sein. Ich wollte ernst genommen werden. Ich wollte mein Leben selbst in der Hand haben, ohne mich ständig von Erwachsenen und MitschülerInnen bevormundet zu fühlen. Ich wollte selbst die Kontrolle haben. Ich wollte nicht mehr die sein, die so viel isst. Ich wollte als Person anerkannt werden, ohne auf meine Körpergröße reduziert zu werden. Dies waren meine subjektiven Annahmen darüber, wie meine Mitmenschen mich wahrnahmen. Um dies zu erreichen, beschloss ich abzunehmen. Ich wollte zeigen, dass ich nicht mehr gefräßig bin. Ich nahm sehr schnell sehr viel ab. Dieses anfängliche Erfolgserlebnis ebnete den weiteren Weg.
Zu der Zeit betrieb ich seit zwei Jahren Leichtathletik. Ich war eine gute Athletin, die sich auf einem erfolgversprechenden Weg befand. Bereits in der Diätfalle gefangen, entwickelte ich die Überzeugung, dass ich bessere Leistungen abrufen könnte, wenn ich noch mehr Körpergewicht verliere. Essen als Energielieferant? Das gilt vielleicht für andere Menschen, aber mit Sicherheit nicht für mich! Dieser Überzeugung folgend, nahm ich weiter und weiter ab. Meine sportliche Leistung nahm merklich ab. Der Gedanke, dass ich einfach noch zu schwer bin, um gute Leistungen abzuliefern, verstärkte sich dadurch kontinuierlich.
Dieser irrationale, destruktive Teufelskreis aus Gedanken führte schließlich dazu, dass ich in einer handfesten Essstörung landete, aus der ich mich nicht mehr aus eigener Kraft befreien konnte. Diagnose: Anorexia Nervosa. Im Alter von zarten 14 Jahren erklärte ich mich schließlich bereit, in eine psychiatrische Klinik für Kinder und Jugendliche zu gehen, um dort wieder gesund zu werden.
In der Klinik galt: BMI im Normalbereich gleich gesund. Nach einigen extremen Hochs und Tiefs erreichte ich nach zwei Monaten mein Zielgewicht. Ich durfte nach Hause und wieder zur Schule. Meine Gedanken, die vor dem Klinikaufenthalt dauerhaft in meinem Kopf kreisten, waren jedoch nicht verschwunden. Eher im Gegenteil. Ich konnte das neu gewonnene Körpergewicht nur schwer ertragen. Ich hatte zwar nun ein gesundes Körpergewicht, aber mit meiner Essstörung und mit meinem verzerrten Körperbild umzugehen und zu leben habe ich in der Klinik nicht gelernt.
Heute, 10 Jahre später, bin ich 24 Jahre alt. Ich würde mich nicht als „geheilt“ bezeichnen. Ich habe es aber geschafft, meinen Körper so zu akzeptieren, wie er ist und ihn sogar zu mögen. Es gibt natürlich auch Tage, da kommen die destruktiven Gedanken wieder hoch. Aber die guten Tage überwiegen erfreulicherweise.
Wie habe ich das geschafft?
Ich habe sehr liebevolle und unterstützende Menschen um mich herum, die mir täglich zeigen, dass ich viel mehr bin als meine Körpergröße. Ich habe mir therapeutische Unterstützung gesucht.
Ich habe gelernt, das Essen wieder zu genießen.
Ich habe gelernt, dass positive Gedanken enorme Kraft spenden.
Ich habe gelernt, Sport nicht als Mittel zum Zweck des Kalorienverbrennens zu nutzen.
Ich bin wieder in der Lage, den Sport ohne Hintergedanken zu genießen.
Mein Körper ist wieder stark genug, meine ehrgeizigen sportlichen Ziele umzusetzen. Diese Faktoren machen mir täglich Mut und geben mir die nötige Kraft, mich nicht auf die verlockenden Rufe der Essstörung einzulassen.
Ich wünsche mir in der Gesellschaft mehr Sensibilität für das Thema Essstörungen. Ein BMI im Normbereich bedeutet nicht, dass eine Person ein gesundes Essverhalten hat oder dass sie keine destruktiven Gedanken über ihr körperliches Erscheinungsbild hat. Bemerkungen über das Essverhalten oder den Körper anderer Personen sind IMMER unsensibel und müssen daher, bevor sie ausgesprochen werden, unbedingt reflektiert werden. Natürlich spielen auch gesellschaftlich als besonders erstrebenswert angesehene Körperformen eine wichtige und einflussreiche Rolle. Wichtiger erscheinen mir jedoch die Vermittlung einer gesunden, unverzerrten Körperwahrnehmung, die Förderung körperlichen und seelischen Wohlbefindens, die Auseinandersetzung mit eigenen Stärken und Fähigkeiten und die Erlangung von Selbstakzeptanz, am besten bereits im Kindesalter.
Auch im Bereich des Sports wünsche ich mir einen achtsamen und sensiblen Umgang mit dieser Thematik. Veraltete Trainingsmethoden und Ansichten sind auch heute noch häufig an der Tagesordnung. Diese Trainingsmethoden können irrationale Gedanken, verzerrte Körperbilder und destruktiven Ehrgeiz fördern. Der Fokus sollte insbesondere im Jugendsport stärker auf gesunde Leistungssteigerung und auf Freude am Sport gelegt werden.