MARTINA: LAUFEN = GIFT ODER LIEBE
Geschrieben von Martina Huber
In diesem Beitrag geht es um Erfahrungen rundum das Thema Essstörung. Sollte diese Themen negative Reaktionen bei dir auslösen, bitte sei achtsam und lies den Artikel nur im Beisein einer Person deines Vertrauens.
Das Laufen – zuerst Gift für meinen Körper, nun Medizin und Liebe
Es gab eine Zeit, in der das Laufen für mich nur mit Kalorien verbrennen gleich gesetzt wurde. Eine Zeit, in der ein gestörtes Verhältnis zu Essen mein Leben bestimmte und in dem Sport, besonders das Laufen dies noch unterstützte. Als ich damals erkannte, dass man durch das Laufen sehr schnell und sehr viele Kalorien verbrennen kann, sah ich es als mein größtes Geschenk. Dieses Geschenk wurde allerdings auch das größte Gift für meinen Körper. Heute bin ich froh, dass Sport und vor allem das Laufen mir all das zurückgibt, was es mir einst genommen hat. Heute fühle ich eine wahre Liebe zum Laufsport, ich fühle mich stark und gesund und bin stolz auf meinen Körper, wie er ist und was er leistet.
Doch wie kam es dazu?
Das will ich nun etwas näher erzählen und dabei aufmerksam machen, dass man sich niemals mit anderen vergleichen darf. Wir sind alle gut so wie wir sind und wir sollten nicht den Sport missbrauchen, um uns in etwas hineinzudrängen, was wir nicht sind.
Sport hat für mich schon immer eine große Rolle in meinem Leben gespielt. In der frühen Jugend ging es mir vor allem darum, Sport als soziale Aktivität zu genießen. Doch als ich in die Pubertät kam und dabei wie viele andere Mädchen erstmal zugenommen habe, weil sich der Körper nun mal verändert, hat das vieles verändert. Ich war unzufrieden mit mir und habe mich mit vielen meiner Freundinnen verglichen, die nach meiner Wahrnehmung schlanker und sportlicher waren. Als ich dann auch noch von zu Hause ausgezogen bin, nach Berlin gezogen bin, habe ich noch weiter zugenommen. Ich war nie wirklich dick, aber ich habe mich ab einem gewissen Zeitpunkt so unwohl gefühlt, dass ich es für nötig hielt etwas zu ändern. Ich entdeckte den damaligen neuen Trend der Low-Carb Ernährung für mich, weniger Kalorien zu mir zu nehmen und dabei gleichzeitig mit dem Laufen anzufangen. Laufen schien für mich der schnellste und einfachste Weg zu sein noch mehr Kalorien zu verbrennen. Es lief in meine Augen sehr gut, es funktioniert also für mich, und wenig später kamen die ersten Komplimente für meine Fortschritte. Diese positiven Worte haben mich in meinem Vorhaben natürlich weiter bestätigt. Ich fing an noch mehr zu laufen – immer natürlich mit der Ausrede, „Laufen ist gesund, macht mich fit, ich brauche es neben dem Stress in der Uni“ etc. Aber niemals hätte ich mir eingestanden, dass ich es eigentlich die meiste Zeit nur getan habe, um mir mein Essen zu verdienen und noch weitere Kalorien zu verbrennen. Es wurde zu einem Teufelskreislauf und nahm immer mehr und mehr ab. Meine Mitmenschen fingen langsam an sich allmählich Sorgen zu machen. Ich selbst hatte aber nie das Gefühl, dass ich schon zu dünn wäre. Ab diesen Zeitpunkt wollte ich auch nicht mehr explizit weiter abnehmen, ich hatte nur so Angst bekommen, wieder zu zunehmen, dass ich mit meinem derzeitigen Lebensstil einfach weitermachte. Richtig gegessen habe ich nur, wenn ich auch gelaufen bin. „Wenn ich mich nicht bewege, verbrenne ich auch keine Kalorien, also darf ich auch keine zu mir nehmen, sonst nehme ich ja wieder zu.“, das war mein Hauptgedanke. Es ging leider immer so weiter und so weiter. Bis ich zu einem Punkt kam, an dem es wirklich kritisch wurde. Im Spiegel sah ich mich als normal, aber auf Fotos sah ich plötzlich, dass ich wohl doch „etwas“ dünner war, als all die andern Mädels um mich herum. (Nach heutiger Betrachtung war ich extrem viel dünner und an der Grenze zur Magersucht). Doch mein Ehrgeiz, dass ich es alleine schaffe, zurück zu einem gesunden Körper zu gelangen war größer. Ich habe mich nie wirklich mit Freunden und Familie richtig über mein gestörtes Verhältnis zum Essen und Sport ausgetauscht, mir war es peinlich und sobald darüber geredet wurde, dass ich doch zu dünn bin und einfach mehr essen solle, löste dies eine Krise bei mir aus. Ich habe gemerkt, dass ich immer schwächer wurde, mir selbst meine „seht her, ich bin doch so fit und gesund, ich kann so lange Joggen“ Läufe immer schwerer wurden. Aber ich wollte diese Schwäche nicht zeigen, ich wollte nicht nachgeben. Ich musste für mich selbst einen Weg finden, einen Weg, den ich alleine beschreiten konnte, der mich aber zurück zu Kräften und einem gesunden Körpergefühl führte. Anfangs spielte das Essen eine große Rolle, ich habe es mir mehr und mehr reingezwungen, ich wollte mir beweisen, dass ich es ohne Hilfe kann. Wirklich wohl gefühlt habe ich mich bei dieser Strategie aber nicht. Ich habe es auch geschafft ein paar Kilo zuzunehmen. Aber mit einem schlechten Gefühl. Laufen ging ich auch, aber nicht mehr so intensiv. Es wurde mehr und mehr zur Nebensache. Mein Gewicht hatte sich stabilisiert. Ich war zwar immer noch dünn, aber ich sah nicht mehr ganz so kränklich aus. Nun war mein Körper wieder etwas gesünder, aber mein Geist fühlte sich nicht wohl. Ich wusste nicht, was meine Motivation war. Ich tat es einfach nur, damit die Leute um mich nicht mehr schlecht über mich reden.
Mit zunehmender Stärke fing auch an, dass mir der Sport und vor allem das Laufen wieder mehr Freude bereitete. Diesmal aber richtige Freude, keine Fake-Freude, die ich mir nur eingeredet hatte, um Kalorien zu verbrennen. Beim Laufen verspürte ich plötzlich einen Fortschritt, je mehr mein Körper zugenommen hatte. Dies war wohl der entscheidende Punkt, der mir den Weg zu einem gesunden Körper und Geist geöffnet hatte. Denn die Zunahme sah ich nun nicht mehr als Zwang, ich sah es als Treibstoff für meine Freude – meine Freude am Laufen.
Vor ziemlich genau einem Jahr war ich meiner Meinung nach dann auch gut und stark genug, um das erste Mal zum Kraft-Tuesday bei den Kraftrunners zu gehen. Von diesem Tag wurde kein Kraft-Tuesday mehr ausgelassen. Ich habe den Good-Vibes-Good-People Spirit gespürt und wurde ehrgeiziger. Dies hieß aber auch wieder mehr Läufe, mehr Training und folglich auch mehr Kalorien verbrennen. Diesmal wurde das Kalorienverbrennen aber nicht zu meinem Feind. Mir war bewusst, dass ich für meine Leistung Treibstoff brauche. Nachdem ich im Sommer dann auch noch einen Startplatz für den Berliner Marathon bekommen habe, wurde die Laufintensität natürlich noch höher. Ich hatte das Glück einen Sportleistungstest an der Charité zu machen und dabei auch mit unserem Läuferkollegen und Sportartz Dr. Paul Schmidt Helling mich näher zu unterhalten. Als Arzt sah er mich natürlich immer noch in einer leicht kritischen Situation. Vor allem mit dem angestiegenen Laufpensum war für mich die Gefahr da, wieder ab- anstatt zuzunehmen. Doch er bestärkte mich in meinem Vorhaben, und sah wie das Laufen meinen Weg zu einem gesunden Körperbewusstsein bestärkte. Einen Marathon zu laufen fordert den Körper auf extreme Art und Weise heraus. Es ist natürlich eine Extremsituation, welche mir bewusst war. Ich fühlte mich durch die Vorbereitung aber stark genug, ich hatte Freude an den sportlichen Fortschritten, aber auch plötzlich Freude am Zunehmen. Körper und Geist hatten sich also nun vereint.
Der Marathon im Oktober 2019 wurde dann auch noch zu einem vollen Erflog für mich. Mein Ziel war es, wie für die meisten First-Time Marathon-Läufer unter 4 Stunden zu laufen. Daraus wurden dann aber stolze 3:43.50. Auch in der Post-Marathon Phase, als mein Laufpensum deutlich abnahm, hatte ich keine Angst mehr, nicht genügend Kalorien zu verbrennen. Ich habe weiter mein Essen genossen und ich bin dankbar dies bis heute zu können. Als im Januar dann das Project Fearless mit den SUPER KRAFT WMN (= FIERCE RUN FORCE) gestartet ist, kamen für eine Millisekunde wieder Zweifel auf, ob ich im Vergleich zu den anderen Frauen überhaupt stark und schnell genug wäre, ob ich nicht doch noch für zu dünn empfunden werde? Und ja, ich würde mich heute immer noch als dünn ansehen, und ich weiß das dies auch viele andere Menschen um mich so sehen. Aber mir ist es bewusst und ich bin trotzdem stolz auf das, was ich bisher erreicht habe. Der Spirit der FIERCE RUN FORCE bestärkt mich jetzt nur noch mehr, weiter zu machen. Glücklich in meinem Körper zu leben, glücklich beim Laufen zu sein. Wir alle sind Individuen, wir müssen uns nicht miteinander vergleichen. Ich weiß ich werde kein Profi-Sportler mehr, das ist auch nicht mein Ziel. Ich möchte nicht schneller, stärker, oder besser als Frau X sein, ich möchte für mich das Beste herausholen. Das Beste in einem gesunden Körper, den ich so liebe wie er ist, und dem ich dankbar bin, für all das, was er jeden Tag leistet.